"Kossinna's smile" - Die Archäologie kann an den Völkern, die sie erforscht, nicht mehr vorbei sehen
Seit 1945 tobt in der deutschen Archäologie ein Streit rund um den Archäologen Gustaf Kossinna (1858-1931). Er hatte die Verwegenheit besessen, archäologische Kulturen mit Völkern gleichzusetzen. Und in einem bigotten kulturalistischen und/oder naturalistischen Fehlschluß war man seither der Meinung, daß dieser archäologische Ansatz falsch sei, DA er ja - angeblich -
"direkt" nach Ausschwitz geführt hätte.
Nun, irgendwann schlägt die Stunde jedes solcher Fehlschlüsse vom Sollen auf das Sein, solcher zeitgeist-gebundener Interpretationen wissenschaftlicher, hier archäologischer Sachverhalte. Im März 2015 wurde der Durchbruch in der Indogermanen-Forschung infolge der Ancient-DNA-Revolution verkündet.
Und nun ist im April-Heft 2017 der international angesehenen Archäologie-Zeitschrift "Antiquity" ein Aufsatz erschienen mit dem ebenso schlichten wie entwaffnenden Titel "Kossinna's smile" (1). Nein, es handelte sich um keinen April-Scherz. In dem Aufsatz heißt es,
"zu einfach wäre es, sich hinter einem Anti-Kossinna-Schutzwall zu verschanzen"
"it would be too simple to hide behind an Anti-Kossinnian firewall"
nämlich im Angesicht der umstürzenden neuen Ergebnisse der AnicentDNA-Forschung, über die ich schon mehrfach gebloggt habe. Tenor des kurzen Aufsatzes ist dann am Schluß (1): Die Komplexität der Zusammenhänge würde von den beiden Durchbruch-Ancient-DNA-Studien des Jahres 2015 nicht in vollem Umfang erfaßt. ... Rückzugsgefechte also, nachdem der "antifaschistische Schutzwall" schon völlig in die Brüche gegangen ist im Zuge des Ancient-DNA-Dauerbeschusses. Ein Schutzwall, über den der alte Kossinna nur noch lacht droben von seiner himmlischen Aussicht. So heißt es ja schon im Titel.
Es gibt Aufsätze, die geradezu schlagwortartig den Zusammenbruch politisch-korrekter Weltbilder deutlich werden lassen, von Weltbildern, die nur deshalb eine so starke Vorherrschaft besaßen, weil sie eben so durch und durch "korrekt" erschienen. Im Jahr 2004 war das ein kurzer Genetik-Aufsatz mit dem Titel "Lewontin's Fallacy". Im Jahr 2017 ist es nun ein kurzer archäologischer Aufsatz mit dem schlichten Titel "Kossina's smile".
Gewalt
In derselben Antiquity-Folge ist noch ein begleitender zweiter Artikel erschienen (2), der unter den Online-Aufsätzen der Zeitschrift zu den drittmeist-gelesenen überhaupt zählt. In diesem werden noch manche Details dieser schnurkeramischen Zuwanderung nach Mitteldeuschland erörtert. Und da werden Geschichten geschildert*) wie in einem Roman: Schnurkeramiker aus Sachsen entführen Bauerntöchter aus dem Harz und die Bauern führen einen Rachefeldzug, in dem mehrere Schnurkeramik-Familien mit Pfeilschüssen von hinten, also aus dem Hinterhalt heraus (oder auf der Flucht), getötet werden. Aber die Angehörigen dieser Schnurkeramiker waren in der Lage, die Familien ordentlich, ja, liebevoll bestatten.
Während man das liest, kommt einem der Gedanke, ob es nicht vielleicht gut ist, sich bei den Eroberungskriegen der Schnurkeramiker an die Kriegszüge von Alexander dem Großen zu erinnern und die damit verbundene Hellenisierung fast der gesamten antiken Welt. Vielleicht erfolgte die Ausbreitung der Schnurkeramiker/Indogermanen mit ähnlicher Emphase. Auch bei den Makedonen rund um Alexander spielten ja liebevolle Beziehungen untereinander eine große Rolle.
Abschließend heißt es in dieser Studie über das neue Bild der Geschichte des europäischen Neolithikums (2):
"Es mag einige geben, die sich nicht darüber freuen können, weil es so viel Ähnlichkeit aufweist mit dem älteren Paradigma von Ausbreitungsbewegungen als dem wesentlichsten Prinzip kulturellen Wandels so wie es durch Gustaf Kossinna und Gordon Childe repräsentiert worden war. Aber wir sind jetzt in der Lage, die Komplexitäten hinter den historischen Prozessen in viel größerer Detailgenauigkeit aufzuklären und so die gar zu simplen Modelle der Vergangenheit zu vermeiden."
"Some may not like it for its resemblance to an older paradigm of migrations as a primary cause of cultural change, as represented by Gustav Kossinna and Gordon Childe (Kristiansen 1998: 7–24), but we are now in a position to unravel the complexities behind the historical processes in much detail, and thus avoid the simplistic models of the past."
*) Hier der Roman (s.a. 3): "At the Corded Ware cemetery of Eulau, the application of strontium isotopic tracing, ancient DNA and archaeology has allowed a full reconstruction of a singular family massacre and its local background (Haak et al. 2008; Meyer et al. 2009; Muhl et al. 2010). Four multiple burials contained single families of father, mother and children in various combinations, and it could be demonstrated that the mothers were of non-local origin, most probably originating in the Harz Mountains 50–60km north of the settlement. The arrows that had killed the families confirmed this, as they belonged to another Neolithic culture: the Schönfeld, which was located in this area and practised cremation, a burial custom different to that of the Corded Ware Culture (compare Muhl et al. 2010: 44, 125). Contacts between the two are also illustrated by the occurrence of Schönfeld pottery in Corded Ware graves in the Halle-Saale region (Furholt 2003). Other Neolithic groups in the region, such as the Bernburg Culture, practised collective burials of multiple family groups, as demonstrated by genetics, again being distinctively different from the Corded Ware practice of individual burials (Meyer et al. 2012). We observe two things: that Corded Ware males practised exogamy, perhaps marriage by abduction, which provides a possible explanation for the killing."
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- Heyd, Volker: Kossinna's smile. In: Antiquity, Vol. 91, No. 356, 04.2017, p. 348-359. https://www.cambridge.org/core/journals/antiquity/article/kossinnas-smile/8ABA3BD9132B7605E8871236065CD4E3, https://research-information.bristol.ac.uk/files/113850524/Kossinna_s_Smile_as_finally_submitted.pdf
- Kristiansen, Kristian u.a.: Re-theorising mobility and the formation of culture and language among the Corded Ware Culture in Europe. In: Antiquity, Vol. 91, No. 356, 04.2017, https://www.cambridge.org/core/journals/antiquity/article/retheorising-mobility-and-the-formation-of-culture-and-language-among-the-corded-ware-culture-in-europe/E35E6057F48118AFAC191BDFBB1EB30E/core-reader
- https://de.wikipedia.org/wiki/Familiengr%C3%A4ber_von_Eulau
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